Krieg in der Ukraine

51 Stunden Flucht mit sechs Kindern enden in Ostfriesland

Daniel Noglik
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Von Daniel Noglik
| 03.03.2022 19:58 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Beim Spielen an der Wieke lachen die Kinder der Familie Abramov. Die Flucht wirkt für einen kurzen Moment wie vergessen. Foto: Ortgies
Beim Spielen an der Wieke lachen die Kinder der Familie Abramov. Die Flucht wirkt für einen kurzen Moment wie vergessen. Foto: Ortgies
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Die achtköpfige Familie Abramov ist aus der Ukraine geflohen – und in Ostfriesland angekommen. Das Hilfswerk „Ein Herz für Ostfriesland“ unterstützt Mutter Yaroslava, Vater Pavel und die sechs Kinder.

Neuefehn - Bis zur siebten Klasse besuchten die Mädchen Adeline und Yaroslava dieselbe Schulklasse in Kasachstan, dann trennten sich die Wege der beiden. Jetzt, viele Jahre später, stehen sie wieder nebeneinander – in Neuefehn, Samtgemeinde Hesel, Ostfriesland. Beide Frauen haben zwischenzeitlich geheiratet, sie haben Kinder. Ansonsten sind ihre Leben ganz unterschiedlich verlaufen: Adelines Familie war damals nach Deutschland ausgewandert, Yaroslavas in die Ukraine. In Yaroslavas Heimat Iwano-Frankiwsk herrscht Krieg, in Adelines Heimat Leer beginnt der Frühling. Die beiden Frauen stehen nicht nebeneinander, weil die eine die andere besucht. Sie stehen nebeneinander, weil eine der beiden auf der Flucht ist.

Yaroslava Abramova ist inzwischen 42 Jahre alt. Als sie und ihr Mann Pavel Abramov mit dem Reporter sprechen, sind sie gefasst. Hinter dem Journalisten steht das Wasser in einer Wieke, immer wieder huscht Abramovas Blick in diese Richtung. Nicht ohne Grund: Dort am Ufer spielen ihre Kinder, insgesamt sind es sechs.

Katze, Kleidung, Proviant und Decken

Als sie den Sirenen-Alarm in ihrer Heimat nicht mehr aushielten, haben sie und Pavel die Jungen und Mädchen ins Auto gepackt und sind losgefahren. Weg von den Sirenen, weg von den Raketen, weg von der russischen Armee. „Sie haben 28 Stunden bis zur polnischen Grenze gebraucht“, übersetzt Adeline Nandryschs Ehemann Ivan, der selbst Ukrainer ist. Von der Grenze bis nach Ostfriesland seien es noch einmal 23 Stunden gewesen.

Familie Abramov wird von „Ein Herz für Ostfriesland“ unterstützt. Foto: Ortgies
Familie Abramov wird von „Ein Herz für Ostfriesland“ unterstützt. Foto: Ortgies

„Wir Erwachsenen haben wohl auf der ganzen Flucht nur eine Stunde geschlafen“, sagt Abramov. Die Kinder hätten furchtbare Angst gehabt und geweint. Vor dem Aufbruch habe der älteste Sohn gar nicht schlafen können – aus Angst, den richtigen Zeitpunkt für die Flucht zu verpassen. „Wir haben alles zurückgelassen“, sagt Abramova. Mitgenommen hätten sie nur die Katze, die Kleidung am Körper, ein bisschen Proviant und zwei Decken. „Es waren minus vier bis minus fünf Grad“, sagt sie. Die Decken seien bitter nötig gewesen, den Motor des Wagens habe man nicht permanent laufen lassen können. Benzin sei teuer – und in der Ukraine außerdem sehr knapp.

Zweimal 500 Euro als Soforthilfe

Auf einem Feld hinter der Wieke hoppelt ein Hase entlang. Die kleineren Kinder zeigen auf das Tier, lachen und hüpfen dabei sogar selbst ein bisschen. Sie pflücken Grashalme, toben und albern herum. Das Haus, das hinter ihnen steht, gehört einem Leeraner Unternehmer. Vermittelt wurde es der Familie über den Verein „Leer kann Kindern helfen“. Sie muss nichts dafür bezahlen, alles tragen die Helfer.

Dazu gibt es 500 Euro als Soforthilfe – und noch einmal 500 Euro aus der Spenden-Aktion des Hilfswerks „Ein Herz für Ostfriesland“ der Zeitungsgruppe Ostfriesland, zu dem auch unser Titel gehört. „Wir wollen, dass die Familie erst einmal runterkommt, sich einlebt, zusammen schöne Dinge unternimmt“, sagt Kumar Kugathasan von „Leer kann Kindern helfen“.

Eine alte Freundin wird zum Glücksfall

Das große Glück der Familie Abramov war Ex-Schulkameradin Adeline Nandrysch. „Wir haben über das Internet Kontakt gehalten – und natürlich habe ich mitbekommen, wie es ihnen in der Ukraine geht“, sagt sie. Ihr Mann kennt Kugathasan schon lange – so kam „Leer kann Kindern helfen“ ins Spiel. Den Papierkram will der Verein für die Abramovs erledigen. Wie es dann weitergeht, muss sich zeigen.

Obwohl sie ihre Heimat fürs Erste verloren haben, haben sie sich ihre Lebensfreude erhalten – wohl nicht zuletzt deshalb, weil eine alte Freundin zur Hilfe kam, als sie am dringendsten gebraucht wurde.

Mann durfte mit über die Grenze

Glück hatten die Abramovs auch an der Grenze – denn Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen als Wehrpflichtige die Ukraine nicht verlassen. „Weil die Frau allein nicht für sechs Kinder sorgen kann, durfte der Mann mit“, sagt Kugathasan. Eine möglicherweise noch größere Rolle könnte gespielt haben, dass Pavel Abramov kasachischer Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz in der Ukraine ist – und somit kein Ukrainer.

So war er einer der wenigen Männer, die in den vergangenen Tagen von der Ukraine aus polnischen Boden betreten durften. Zuletzt waren mehrere Fälle bekannt geworden, in denen Ukrainer an der Grenze festgenommen und der Armee übergeben wurden.

Luftangriff auf die Heimatstadt

Wann die Familie nach Iwano-Frankiwsk zurückkehren kann, kann momentan noch niemand sagen. Im Internet kursiert ein Video, das einen russischen Luftangriff auf den dortigen Flughafen zeigt. In Gruppen beim Smartphone-Nachrichtendienst Telegram hatte es geheißen, das Video sei vom ukrainischen Militär gefälscht worden. Eine Überprüfung durch das gemeinnützige Recherche-Kollektiv „Correctiv“ hat aber ergeben, dass es keinerlei Belege für eine Fälschung gibt. „Zahlreiche Berichte und Aufnahmen belegen, dass Luftangriffe auf den Militärflughafen von Iwano-Frankiwsk am Morgen des 24. Februar 2022 erfolgten“, schreiben die „Correctiv„-Journalisten.

Als in Neuefehn Fotograf und Reporter gerade wieder aufbrechen wollen, kommt Pavel Abramov noch einmal auf die Journalisten zu. „Kann ich ein Foto von dir machen?“, fragt er den Fotografen auf Englisch. Der ist erst mal verdutzt – und hakt noch mal nach. „Ja, ein Foto von dir.“ Seine Kinder hätten ihm gesagt, der Fotograf sehe interessant aus. Sie hätten gefragt, ob er ein Erinnerungsfoto schießen könne, sagt der Familienvater grinsend. Nach der Aufnahme strahlt der Ukrainer. Die Journalisten wünschen ihm und seiner Familie alles Gute. Auf dass sie sich gut einleben, hier in Neuefehn, Samtgemeinde Hesel, Ostfriesland.

So können Sie spenden

Wer ukrainischen Kriegsflüchtlingen helfen möchte, kann das mit einer Überweisung an „Ein Herz für Ostfriesland“ mit der IBAN DE 94 2856 2297 0414 5372 02 (Raiffeisen-Volksbank, Aurich) tun. Bitte geben Sie das Stichwort „Ukraine“ an. Wer nicht möchte, dass sein Name veröffentlicht wird, vermerke das bitte. Eine Spende ist auch per PayPal möglich.

„Ein Herz für Ostfriesland“ ist das Hilfswerk der Zeitungsgruppe Ostfriesland.
„Ein Herz für Ostfriesland“ ist das Hilfswerk der Zeitungsgruppe Ostfriesland.

Jeder gespendete Euro wird gemeinnützigen Organisationen zur Verfügung gestellt, die sich um ukrainische Kriegsflüchtlinge kümmern. Es gibt keine Abzüge, die Verwaltungskosten trägt die ZGO. Bei Beträgen ab 199 Euro kann per E-Mail an info@einherzfuerostfriesland.de eine Spendenquittung beantragt werden.

„Ein Herz für Ostfriesland“ sucht derweil weiterhin gemeinnützige Vereine und Organisationen, die das Hilfswerk unterstützen kann. Senden Sie uns Ihre Vorschläge gern per E-Mail an die Adresse info@einherzfuerostfriesland.de. Es sind bereits einige Vorschläge eingetroffen, die vom Beirat des Hilfswerks gesichtet werden.

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