Berlin/Hannover (dpa)
Der Preis des Nichtstuns: Die Wirtschaft braucht Klimaschutz
Das Megaprojekt Klimaneutralität ist im ureigenen Interesse vieler Firmen und Verbraucher. Ein Weiter-so wäre fahrlässig, legen Ökonomen nahe. Könnten alle gewinnen, wenn die Anpassungsschmerzen durchgestanden sind?
Klimaschutz bedeutet Konsumverzicht, weniger Komfort, höhere Kosten, drohende Jobverluste. Ja - das alles kann Klimaschutz mit sich bringen.
Aber wie sähe die Welt in 30, 40, 50 Jahren aus, wenn man jetzt nicht entschlossen umsteuert? Auch wirtschaftlich? Und liegt im Zwang zum Handeln nicht ebenso die Chance, neue Formen des Wirtschaftens, Arbeitens und Lebens aufzubauen?
Dass ganze Staaten und Gesellschaften nicht umhin kommen, den großen Wurf beim CO2-Einsparen zu wagen, steht für viele Experten außer Frage. Skeptiker des menschengemachten Klimawandels bemühen dennoch gern das Szenario großer Wohlstandsverluste - während manche Optimisten glauben, beim Ausstieg aus der über ein Jahrhundert alten Kohlenstoffwirtschaft müsse es vielleicht gar nicht so ruckeln.
Der bisher umfassendste Strukturwandel wird heftig, so viel ist sicher. Auch Ökonomen wissen, welche Möglichkeiten - neben Risiken - im Aufbau eines CO2-neutralen Systems stecken.
1. Kurzfristig teuer, langfristig unfinanzierbar
Die Forschung macht grundsätzlich klar: Einige bleibende Schäden durch die Erderwärmung sind schon da - die Frage ist, ob und wie sie eingegrenzt werden können. Für die Wirtschaft heißt das: Es geht nicht nur um das Ausschöpfen möglicher Vorteile, sondern auch um das Eindämmen von Nachteilen.
Was passieren könnte, wenn nicht genug getan wird, schätzt eine Studie der Beratungsfirma Deloitte ab. Fast eine Dreiviertelbillion (730 Milliarden) Euro könnten die Folgen des Klimawandels demnach allein in Deutschland bis zum Jahr 2070 kosten, sollte es keine konsequente Entkopplung von der Kohlenstoffbasis geben. Eine Summe, die mehr als ein Fünftel der heutigen Wirtschaftsleistung betrüge.
Durch Wachstumseinbrüche gehen in dieser Rechnung in den kommenden 50 Jahren zudem bis zu 470.000 Jobs verloren. Werden die CO2-Emissionen nicht deutlich beschränkt, prognostizieren die verwendeten Klima- und volkswirtschaftlichen Modelle enorme Einbuße auch durch Land- und Kapitalverluste oder Produktivitätsrückgänge.
2. Grünes Wachstum
Damit es nicht so kommt, müssen aus Sicht der Energieökonomin Claudia Kemfert drei zentrale Umbauprozesse gelingen. „Wir müssen das Ausbautempo bei den Erneuerbaren verdrei-, wenn nicht versechsfachen“, sagt die Abteilungsleiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. „Dazu gehört ein Kohleausstieg bis 2030, mit finanziellen Hilfen für die Industrie auch bei grünem Wasserstoff. Und wir brauchen zur Verkehrswende einen deutlich schnelleren Ausbau der E-Mobilität, sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene.“ Entsprechende Investitionen von Staat, Haushalten und Privatwirtschaft könnten ein grünes Wachstum anregen.
Ähnliche Chancen beschreibt Thomas Schlaak von Deloitte: „Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, können wir durch die Entwicklung von Schlüsseltechnologien den Fortschritt beschleunigen.“ Werde Klimaneutralität - eine ausgewogene Bilanz aus freigesetztem und wieder gebundenem CO2 - bis 2050 angepeilt, falle die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts erst niedriger aus. Danach werde sie jedoch umso solider. „Es gibt einen Wendepunkt, ab dem die gravierendsten Auswirkungen des Klimawandels vermieden werden und die Vorteile die Investitionen in emissionsarme Produktionsprozesse ausgleichen.“
Von 2038 an könnte es so weit sein, kalkuliert Schlaak. „Die Zahl der Arbeitskräfte wird zunehmen, insbesondere in der sauberen Energiewirtschaft und im Dienstleistungssektor.“ Manche kritische Ökonomen wie Niko Paech aber bezweifeln, dass Wachstum an sich - ob nun grün oder nicht - überhaupt noch das erstrebenswerte Ziel ist. Auch wegen der Erschöpfung natürlicher Ressourcen müssten Mäßigung und ein Genügsamkeitsdenken die ständige Gewinnmaximierung ablösen.
3. Exportchancen für das Vorbild Deutschland?
Ein Argument für den ökonomischen Nutzen von Klimaschutz ist die Vorbildfunktion, die Wirtschaftspolitiker oft für die Bundesrepublik reklamieren. Deutscher Innovationsgeist soll die internationalen Märkte mit grüner Hightech beliefern. In der Tat setzten Konzerne wie Siemens schon in der bisherigen Energiewende auf Signale ans Ausland. Heimische Öko-Ingenieurskunst gilt auch im Maschinenbau als weltweit angesehen.
Ob Umwelttechnologien allein die Exportstärke zum Beispiel bei Autos oder in der Chemie aufrechterhalten können, ist fraglich. Experten wie Schlaak finden aber durchaus: „Deutschland ist als Vorreiter in Europa gut positioniert, um eine führende Rolle zu spielen.“ Kemfert betont: „Es geht darum, dass wir in Zukunftsmärkte investieren. Auch die USA und China wollen ja einmal klimaneutral sein. Es gibt überall auf der Welt Bestrebungen, aus den fossilen Energien auszusteigen.“
4. Sozialer Ausgleich - und wer soll das bezahlen?
Für eine hinreichende Akzeptanz soll Klimaschutz kein Projekt der Besserverdienenden sein. Gefragt sind Übergangshilfen für diejenigen, die sich Alternativen in Energie und Verkehr nicht so einfach leisten können. „Wir werben dafür, Einnahmen aus der CO2-Bepreisung pro Kopf zurückzuerstatten, weil das Bezieher niedriger Einkommen bevorteilt“, heißt es beim DIW.
Gerade weil die Inflation sonst droht, die Bereitschaft zum Umdenken abzuwürgen, sind weitere Maßnahmen im Gespräch: Zuschüsse zu den Stromkosten, mehr Wohngeld oder sogar Preiskontrollen wie in anderen Ländern. Bei den gesellschaftlichen Folgen dürfe man sich nicht in die Tasche lügen, meint Ariane Reinhart, Personalchefin des Autozulieferers Continental: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass - das darf es nicht geben. Wir müssen uns da ehrlich machen. Wie schaffen wir es, dass wir keine sozialen Verwerfungen bekommen?“
Noch nicht geklärt ist bei alldem, wie eine Ampel-Koalition die Klimaschutzausgaben finanzieren will. Die FDP schlägt vor allem bessere Anreize und staatliche Absicherungen für Privatinvestitionen vor. Zugleich sollen kaum neue Schulden gemacht und keine Steuern erhöht werden. Kritiker auch bei SPD und Grünen fragen, wie das angesichts der Tragweite der Aufgabe klappen soll.
5. Es gibt noch viel Einsparpotenzial
Wirtschaft wie Wissenschaft weisen häufig darauf hin, dass innerhalb bestehender Regeln eine Optimierung durch mehr Energieeffizienz und sorgsameren Energieverbrauch möglich ist. Das gilt für die Art, wie Unternehmen produzieren - alte Verfahren oder vernetzte „Industrie 4.0“ - ebenso wie für das Verhalten der Verbraucher beim Einkaufen, Heizen, Urlaub machen oder in der Mobilität. Techniken zur Steuerung bedarfsgenauer Stromflüsse („smart meter“) breiten sich langsam aus. Sie sind aber ebenfalls nicht billig und rufen teils Datenschützer auf den Plan.
Das größte Sparpotenzial überhaupt dürfte im Gebäudesektor liegen. Doch auch Sanierungen, Wärmedämmung und energieeffizientes Bauen kosten viel Geld. Und auf der finanziellen Seite sollte nicht zuletzt der Staat - so fordern sogar einige Vertreter der Autoindustrie - die Besserstellung von Dieselkraftstoff und weitere klimaschädliche Subventionen aufgeben.
6. Weg von der Dominanz des Autoverkehrs
„Vieles ist immer noch aufs Automobil ausgerichtet“, sagt Kemfert. Nicht nur finanziell, auch infrastrukturell - sehe man sich allein den Flächenverbrauch in den Städten an. „Dass der ÖPNV relativ teuer ist, muss umgekehrt werden. Und damit die Verkehrswende gelingt, brauchen wir mehr und bessere Mobilitätsdienstleistungen.“ Bedingung indes: Sollen Apps einzelne Verkehrsträger verschränken, muss die Digitalisierung vorankommen.
Eine reine Förderung von Autokäufen halten Ökonomen auf Dauer für wenig tragfähig. „Wir haben von Anfang an die Kaufprämie für E-Fahrzeuge als Verzerrung kritisiert“, so Kemfert. Stattdessen solle der Staat den Ausgleich über das Steuer- und Abgabensystem herstellen. Unsinnig seien Zuschüsse für Hybridwagen mit Verbrenneranteil. Conti-Managerin Reinhart mahnt aber: „Wenn nur noch emissionsfreie Fahrzeuge auf die Straße kommen, muss man auch schauen, was das für die Komponenten, die Arbeitsplätze, die Wertschöpfungsketten weltweit bedeutet.“
Enttäuschung unter Klimaschützern ruft hervor, dass sich etliche Länder und Konzerne weiter nicht auf feste Daten für ein Verkaufsende sämtlicher Verbrenner festlegen. So blieb auch Deutschland auf der Glasgower Konferenz bei einer Initiative außen vor, deren Teilnehmer spätestens 2040 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge erlauben wollen.
7. Renaissance der Atomkraft?
Aus einer ganz anderen Ecke fällt ein zusätzlicher Schatten auf die stockende Energiewende: Um Deutschland herum werden neue Atommeiler geplant oder gebaut. In Frankreich, Schweden, Finnland, Tschechien oder Großbritannien argumentiert man, moderne Reaktoren seien viel sicherer. Warum also nicht die CO2-freie Atomkraft reaktivieren und als „Brückentechnologie“ einsetzen, solange die schwankungsanfälligen Wind- und Solarquellen die Grundlast ohne genügend Speicher nicht verlässlich tragen können?
In Deutschland lassen Energiewirtschaft und Politik durchblicken, dass nach dem Fukushima-Schock und vorgezogenen Atomausstieg wohl nicht am Aus der Kernenergie gerüttelt wird. Zumal jenseits der Risiken im Kraftwerksbetrieb, der hohen Investitionen in neue Technik und dem weiteren Uranabbau sowie des Endlagerproblems schon viele Anlagen vom Netz gegangen sind. Dennoch stellt sich die Frage: Was ist der deutsche Atomausstieg wert, falls sich der Kohleausstieg doch weiter hinziehen sollte und Nachbarn laufend neue Akw einweihen?
8. Markt contra Staat - Debatte über Emissionsrechte
Branchen mit hohem CO2-Ausstoß behelfen sich mit Zertifikatehandel oder „Kompensationsprojekten“ wie Aufforstung, wenn sie Verringerungsziele noch nicht erreichen können. Dem Handel mit Verschmutzungsrechten kommt dabei einerseits eine wichtige Steuerungsfunktion zu. Einige finanzkräftige Firmen sehen sich allerdings dem Vorwurf ausgesetzt, sich durch solche Papiere „freizukaufen“. In der Autoindustrie etwa gibt es einen regelrechten internen Markt dafür.
Über eine Verknappung der Papiere soll der Preis für Verschmutzung erhöht werden. Verschiedene Länder wollen den Emissionshandel auf mehr Wirtschaftszweige ausweiten. Kritiker reiner Marktansätze betonen ergänzend staatliches Handeln über Steuern und Regulierung. Und andere Verbindungen mit starkem Treibhauseffekt wie Methan (CH4) oder Lachgas (N2O) müsse man stärker einbeziehen.
9. Wie können Verschmutzer zur Kasse gebeten werden?
Der Emissionshandel griff ein Problem auf, über das in der Ökonomie lange nur theoretisch diskutiert wurde: Wie schafft man es, den „Umweltkonsum“ privater Akteure zu erfassen und diesen die sozialen Kosten ihres Tuns zuzurechnen? Sogenannte externe Effekte wie Luft- und Wasserverschmutzung entstehen durch Handeln zum eigenen Vorteil, die negativen Folgen schwappen aber auf die Gesellschaft über. Wenn das globale Klima als öffentliches Gut aller betroffen ist, reichen zudem nationale Lösungen nicht aus. Wegen der Interessen der einzelnen Staaten ist eine Koordinierung wiederum sehr schwierig.
„Die politischen Entscheidungsträger müssen sich auf einen gemeinsamen strategischen Ansatz einigen“, fordert Volker Krug von Deloitte. Die EU diskutiert über eine Art Kostenausgleich für CO2-intensive Güter beim Eintritt in den Binnenmarkt. Ein solcher „carbon border adjustment mechanism“ könnte umweltschädliche Importprodukte, die anderswo zu niedrigeren Standards hergestellt wurden, mit zusätzlichen Abgaben belegen. So soll globales Öko- und Lohndumping auch zum Schutz der Arbeitnehmer vermieden werden.
10. Gegen „Feelgood“ und „Greenwashing“
Klimaschutz liegt inzwischen auch auf den Finanzmärkten im Trend. Selbst Rohstoffgiganten wie Shell sehen sich zum Umbau ihres Geschäftsmodells getrieben, um weiter die Kapitalmärkte im nötigen Umfang anzapfen zu können. Wie viel davon ist echt, wie viel Feigenblatt? Die Banken- und Versicherungsbranche, die selbst Ökoprodukte auflegt, erhält durchaus Lob dafür.
Die Deutsche Bank etwa stockte Investmentangebote in dem Segment auf. Kürzlich kam ein Fonds hinzu, dessen Mittel in Projekte zum Meeresschutz fließen sollen. „Es ist der erste Wohltätigkeitsfonds dieser Art eines Finanzinstituts“, heißt es bei den Frankfurtern - ein Ziel sei die Korallen-Erhaltung auf den Malediven. Dennoch geben NGOs wie der Umwelt- und Menschenrechtsverein Urgewald zu bedenken: „Das Engagement für das Klima wird durch die Bereitschaft, die Öl- und Gasindustrie weiterhin zu versichern, stark unterminiert.“
Ökologisch-soziale Standards sind bei Investoren zu harten Kriterien für Anlageentscheidungen gereift. Manchmal freilich bleiben Zweifel, ob die Motivation wirklich der Kampf für das 1,5-Grad-Ziel ist - oder ob nicht bloß auf einen Werbezug aufgesprungen, vielleicht gar ganz anderes Verhalten „grüngewaschen“ werden soll. „Das Thema muss aus der „Feelgood“-Ecke raus“, sagt Contis Nachhaltigkeitschef Steffen Schwartz-Höfler. „Wir haben hier eine echte Transformation. Es ist wichtig, dass dabei nicht nur Hochglanzberichte herauskommen.“
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