Schüsse und Sprengsätze Schlag gegen Drogenbande: 132 Tote bei Polizeieinsatz in Rio

Denis Düttmann, dpa
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Von Denis Düttmann, dpa
| 28.10.2025 21:41 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Anwohner reihen Dutzende Leichen auf der Hauptstraße der Favela Penha auf. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa
Anwohner reihen Dutzende Leichen auf der Hauptstraße der Favela Penha auf. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa
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Schusswechsel, brennende Barrikaden, Drohnenangriffe: Der Einsatz gegen das Rote Kommando in den Favelas der Küstenmetropole führt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Menschenrechtler üben Kritik.

Bei dem blutigen Polizeieinsatz gegen das Verbrechersyndikat Comando Vermelho (Rotes Kommando) in der brasilianischen Küstenmetropole Rio de Janeiro sind mindestens 132 Menschen ums Leben gekommen. Das teilte die unabhängige Ombudsstelle des Bundesstaats Rio de Janeiro mit. Damit stieg die Zahl der Opfer einen Tag nach den stundenlangen Gefechten in den Favelas Alemão und Penha auf mehr als das Doppelte. 

Bewohner bargen Dutzende Leichen aus der Umgebung

Die Regierung des Bundesstaats Rio de Janeiro bestätigte zuvor zunächst 64 Tote, darunter vier Polizisten, korrigierte die Zahl dann aber ohne Angabe von Gründen auf 58. Allerdings bargen die Bewohner der Favela Penha am Mittwoch Dutzende Leichen aus den umliegenden Brachflächen und Waldgebieten und legten sich auf der Hauptstraße des Viertels ab. Der Sprecher der Militärpolizei Marcelo de Menezes Nogueira sagte dem Fernsehsender TV Globo, er gehe davon aus, dass es sich um weitere Tote handele, die noch nicht registriert wurden. 

Die Bewohner der Favela reihten die Toten nebeneinander auf, einige unter Decken, viele aber auch nur mit Unterhosen bekleidet. Familienmitglieder suchten nach ihren Angehörigen, andere trauerten bereits um ihre Toten. „In 36 Jahren in der Favela, in denen ich mehrere Operationen und Massaker miterlebt habe, habe ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen wie das, was ich heute sehe“, sagte der Aktivist Raull Santiago, der bei der Bergung der Leichen half, dem Sender TV Globo. „Das ist etwas Neues. Brutal und gewalttätig auf einem bisher unbekannten Niveau.“

Familien trauerten um ihre toten Angehörigen. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa
Familien trauerten um ihre toten Angehörigen. Foto: Silvia Izquierdo/AP/dpa

Bei der Operation handelte es sich um den blutigsten Polizeieinsatz in der Geschichte des Bundesstaates Rio de Janeiro. Trotz der blutigen Bilanz bezeichnete Gouverneur Cláudio Castro die Operation als Erfolg. „Wir stehen zu allem, was wir gestern getan haben“, sagte er und kondolierte den Familien der vier getöteten Beamten. „Die einzigen Opfer gestern waren diese Polizisten.“

Comando Vermelho ist in Drogenhandel verwickelt

Das Comando Vermelho ist eines der größten Verbrechersyndikate des südamerikanischen Landes und vor allem im Drogenhandel aktiv. Bei dem Einsatz wurden nach Angaben der Behörden 81 Verdächtige festgenommen - darunter ein regionaler Anführer der Gruppe und der Finanzchef von einem der obersten Bosse der Gang. Die Polizei beschlagnahmte zudem über 90 Schnellfeuerwaffen und mehr als 200 Kilogramm Drogen. 

Nach dem Einsatz wurden zehn bereits inhaftierte hochrangige Anführer des Comando Vermelho in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Sie sollen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Sicherheitskräfte angeordnet haben.

Heftige Gefechte mit Schnellfeuergewehren und Drohnen

Mindestens 2.500 Polizisten waren an der Operation beteiligt, bei der auch zwei Hubschrauber und Dutzende gepanzerte Fahrzeuge zum Einsatz kamen. Kriminelle steckten Barrikaden und Autos in Brand, warfen Sprengsätze von Drohnen ab und eröffneten das Feuer auf die Beamten. Vier Polizisten kamen bei dem Einsatz ums Leben, neun weitere Polizisten wurden angeschossen. Auch drei Zivilisten gerieten ins Kreuzfeuer. 

Polizisten und Kriminelle lieferten sich stundenlange Gefechte. Foto: Jose Lucena
Polizisten und Kriminelle lieferten sich stundenlange Gefechte. Foto: Jose Lucena

Auf Videos war zu sehen, wie schwarze Rauchwolken über den Vierteln aufstiegen. Während einer der heftigsten Phasen der Kämpfe peitschten in einer Minute über 200 Schüsse durch die Favela. Schwarzgekleidete Polizisten in Kampfmontur stürmten mit Sturmgewehren im Anschlag durch die engen Gassen der Elendsviertel.

Die bürgerkriegsähnlichen Zustände hatten auch Auswirkungen auf das Stadtleben. Über 100 Buslinien mussten wegen der Kämpfe ihre Routen ändern. Mehrere Universitäten und Schulen ließen den Unterricht ausfallen. In den betroffenen Stadtteilen leben etwa 280.000 Menschen. „Das ist die Realität. Wir bedauern zutiefst, dass Menschen verletzt wurden, aber dies ist eine notwendige, intelligent geplante Maßnahme, die fortgesetzt wird“, sagte der Sicherheitsminister von Rio de Janeiro, Victor Santos, dem Sender TV Globo. 

Im Fernsehen waren von Einschusslöchern vernarbte Häuserfassaden zu sehen. Eine Bewohnerin der Favela Alemão berichtete, während der Schießerei habe eine Kugel ihr Fenster durchschlagen und den Kühlschrank getroffen. Eine andere beklagte, ihr Hund sei erschossen worden.

Brasiliens Polizei tötet 17 Menschen pro Tag

In kaum einem anderen Land der Welt kommen so viele Menschen bei Polizeieinsätzen ums Leben wie in Brasilien. 2024 töteten Sicherheitskräfte in dem südamerikanischen Land 6.243 Menschen - durchschnittlich 17 Menschen pro Tag, wie aus dem Jahrbuch für öffentliche Sicherheit hervorgeht. In den USA waren Polizisten im vergangenen Jahr für den Tod von 1.378 Menschen verantwortlich, in Deutschland wurden 22 Personen von Beamten erschossen.

Bei den robusten Einsätzen der brasilianischen Polizei in den Elendsvierteln des Landes kommen immer wieder zahlreiche Menschen ums Leben. Foto: Jose Lucena
Bei den robusten Einsätzen der brasilianischen Polizei in den Elendsvierteln des Landes kommen immer wieder zahlreiche Menschen ums Leben. Foto: Jose Lucena

Allerdings lassen sich Polizeieinsätze in Europa nicht mit denen in Brasilien vergleichen: Viele Armenviertel werden von schwer bewaffneten Drogenbanden kontrolliert. Rückt die Polizei in den Favelas ein, um einen Haftbefehl zu vollstrecken oder nach Rauschgift zu suchen, wird sie nicht selten mit Salven aus Sturmgewehren empfangen. Die Operationen in den verwinkelten Gassen der Elendsviertel von Rio de Janeiro und São Paulo gleichen eher Militäreinsätzen als Polizeimaßnahmen. Menschenrechtsaktivisten werfen der Polizei allerdings vor, häufig mit übertriebener Härte vorzugehen und wenig Rücksicht auf die Bewohner der Favelas zu nehmen.

Menschenrechtsaktivisten kritisieren blutigen Einsatz 

Das Menschenrechtskommissariat der Vereinten Nation forderte eine Untersuchung des blutigen Polizeieinsatzes in Rio de Janeiro. „Wir sind entsetzt über die Polizeieinsätze in den Favelas von Rio de Janeiro, bei denen Berichten zufolge bereits über 60 Menschen ums Leben gekommen sind, darunter vier Polizeibeamte“, hieß es in einer Stellungnahme. „Sie setzen den Trend extrem tödlicher Einsätzen in den abgehängten Gemeinden Brasiliens fort. Wir erinnern die Behörden an ihre Verpflichtungen aus dem internationalen Recht und fordern eine umgehende Untersuchung.“

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte die Operation. „Öffentliche Sicherheit wird nicht mit Blut erreicht“, hieß es in einer Mitteilung der Gruppe. „Der Einsatz mit den meisten Toten in der Geschichte Rio de Janeiros offenbart das Scheitern der Sicherheitspolitik des Bundesstaates und versetzt die Stadt in einen Zustand des Terrors.“

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