Santiago de Chile (dpa)

Südamerikas Musterland steht am Scheideweg

Denis Düttmann, dpa
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Von Denis Düttmann, dpa
| 17.12.2021 10:11 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 3 Minuten
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Jose Antonio Kast, der rechtskonservative Präsidentenkandidat. Foto: Sebastian Beltran Gaete/Agencia Uno/dpa
Jose Antonio Kast, der rechtskonservative Präsidentenkandidat. Foto: Sebastian Beltran Gaete/Agencia Uno/dpa
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Ein deutschstämmiger Ultrarechter oder ein linker Studentenführer wird künftig die Geschicke Chiles leiten. Vom Ausgang der Stichwahl hängt viel ab.

Vor fast genau 15 Jahren starb der chilenische Diktator Augusto Pinochet, doch die Ideologie des rechtsextremen Generals erfreut sich auch heute noch bester Gesundheit.

Mit dem deutschstämmigen Rechtspolitiker José Antonio Kast könnte jetzt sogar wieder ein erklärter Anhänger des Ex-Diktators in den Präsidentenpalast in Santiago de Chile einziehen. „Wenn Pinochet noch lebte, würde er mich wählen“, sagte Kast zuletzt voller Stolz.

Chile steht am Scheideweg: Bei der Stichwahl am Sonntag entscheidet sich, ob das südamerikanische Land den nach den Studentenprotesten vor zwei Jahren eingeschlagenen Kurs beibehält, mit dem Erbe der Pinochet-Diktatur bricht und sich vom neoliberalen Wirtschaftsmodell löst - oder ob Chile mit beiden Füßen auf die Bremse tritt.

Der linke frühere Studentenführer Gabriel Boric steht für gesellschaftlichen Wandel und eine Stärkung des Sozialstaats. Der gerade einmal 35 Jahre alte Abgeordnete aus dem Süden des Landes will ein öffentliches Bildungswesen, bessere Gesundheitsversorgung und setzt sich für die Rechte von Migranten, Indigenen und Homosexuellen ein. „Unser Kreuzzug, für den wir uns in ganz Chile einsetzen werden, ist der Kreuzzug, dass die Hoffnung über die Angst siegt“, sagte Boric.

Einiges ist bereits in Bewegung geraten: Zuletzt beschloss der Kongress die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Zudem arbeitet eine Verfassungsgebende Versammlung an einem neuen Grundgesetz. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-1990).

Der neunfache Vater und strenggläubige Katholik Kast hingegen gibt all jenen eine Stimme, denen das alles viel zu schnell geht. Der Wirtschaftselite, die einen schlanken Staat und niedrige Steuern will. Und den Konservativen, denen Homo-Ehe, Einwanderung und Rechte für die Indigenen suspekt sind. Die jüngste Welle der Gewalt im Süden des Landes, wo radikale Gruppen vom Volksstamm der Mapuche Brandanschläge auf Unternehmen, Häuser und Lastwagen verüben, war Wasser auf die Mühlen des Hardliners Kast.

„Wir müssen uns zwischen Freiheit und Kommunismus entscheiden“, sagte Kast, nachdem er als stärkster Bewerber aus der ersten Runde der Präsidentenwahl im November hervorgegangen war. „Gabriel Boric steht für Chaos, Hunger und Gewalt.“ Weil Boric mit der Kommunistischen Partei paktiert, wirft Kast ihm vor, er würde Chile in eine linke Diktatur nach dem Vorbild von Venezuela verwandeln.

Lange galt Chile als leuchtendes Beispiel in der von Armut, Gewalt und politischer Unruhe geprägten Region. Das Land hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Aber das Musterland leidet auch unter großer sozialer Ungleichheit. Weite Teile des Gesundheits- und Bildungswesens sind privatisiert, immer mehr Menschen fühlen sich abgehängt. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitze fast die Hälfte des gesamten Vermögens in Chile, hieß es zuletzt in einer Studie der Wirtschaftshochschule von Paris.

Linkskandidat Boric, der sich in den jüngsten Umfragen einen hauchdünnen Vorsprung vor Kast verschafft hatte, will damit Schluss machen. „Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein“, sagte er im Wahlkampf.

© dpa-infocom, dpa:211217-99-418830/2

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