Aurich

ON-Weihnachtsaktion: Tafelgründer von Hilfsbereitschaft beeindruckt

Jan-Michael Heimann
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Von Jan-Michael Heimann
| 08.12.2020 13:18 Uhr | 3 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Harald Diemel gründete die Tafel in Aurich. Er reagierte damit auf eine Situation, die sich mit einer Gesetzesänderung in Deutschland verschlimmert hatte, wie er im Gespräch mit den ON verrät. Außerdem sagt er, was an der Arbeit bei der Tafel so wertvoll ist.

Aurich. Als Ende 2004 das sogenannte Bundessozialhilfegesetz in Deutschland auslief und fortan die Ära des Arbeitslosengeld I und II begann, ahnte Harald Diemel nichts Gutes. Der 68-Jährige war seinerzeit Geschäftsführer des Diakonischen Werkes in Aurich. Er kannte die hilfsbedürftigen Menschen, die von der Gesetzesänderung betroffen waren, persönlich. Er wusste, dass es mit der neuen Arbeitslosengeld-Regelung Probleme geben wird. Das bestätigte sich. Die Folge daraus? 2006 gründete Diemel die Auricher Tafel. Er war beeindruckt, wie schnell er ehrenamtliche Unterstützung bekam. Im Gespräch mit den Ostfriesischen Nachrichten blickt Diemel auf die Gründungsgeschichte zurück.

Diemel erklärt es kurz: Nach dem Bundessozialhilfegesetz bekamen die Bedürftigen monatlich einen festen Betrag. Zusätzlich gab es sogenannte Beihilfen, zum Beispiel für Reparaturen oder Einkäufe von Kleidung. Ab 2005 änderte sich das. Es gab monatlich einen höheren Betrag, darin waren allerdings die Beihilfen einberechnet. „Plötzlich hatten die Bezieher mehr Verantwortung für sich“, sagt Diemel. Da war offenbar das Problem. „Wir waren uns schnell einig, dass das in die Hose geht“, so der damalige Diakonie-Chef. Von 1991 bis 2011 führte er die Geschäfte der Diakonie in Aurich. Bis etwa 2017 blieb er bei der Tafel.

Bedürftige kamen mit finanzieller Verantwortung nicht zurecht

Die hatte er 2006 als Folge der Gesetzesänderung gegründet. Denn das frühere System der Diakonie, mit einem Beihilfetopf, funktionierte nicht mehr. Vor 2006 gab es diesen Topf. „Wenn es mal kniff, konnten Bedürftige vorbeikommen und sie bekamen etwas Geld“, erklärt Diemel. Vor der Reform reichte der Topf für ein Jahr. Nach 2004 waren es fünf Monate, bis das Geld weg war.

Der Grund liegt auf der Hand: Die Bedürftigen hatten Probleme, mit der finanziellen Verantwortung umzugehen. Sie hatten monatlich mehr Geld zur Verfügung, schafften es aber nicht, es entsprechend zu verwalten und anzusparen, erklärt Diemel.

Große Bereitschaft für ehrenamtliche Hilfe

Er überlegte sich, wie er die Situation verbessern könnte. Er war unterwegs, in Wilhelmshaven und Oldenburg zum Beispiel. Dort gab es damals schon Tafeln. Es dauerte nicht lange, bis es grünes Licht vom Kirchenkreis Aurich gab. Dann organisierte Diemel einen Infoabend. Er war beeindruckt von dem Interesse. Etwa 60 Menschen kamen und baten ihre ehrenamtliche Hilfe an. Supermärkte in Aurich sagten schnell ihre Unterstützung zu. „Es zeigten alle eine große Bereitschaft“, freut sich Diemel. Er rührte indes weiter kräftig an der Werbetrommel, holte Spenden ran. Die Tafel brauchte Geld, um den Betrieb aufrechterhalten zu können. Es funktionierte: Im ersten Jahr gab es so viele Spenden, dass der Kirchenkreis gar nichts mehr beisteuern musste.

Zunächst ging Diemel davon aus, dass es vor allem große Familien nach der Gesetzesreform schwer haben würden. „Nach etwa einem Jahr merkten wir aber, dass es denen gar nicht so schlecht geht“, sagt Diemel. Unter den Warenempfängern waren vor allem alleinerziehende und ältere Frauen. Männer und jüngere Leute sind kaum gekommen. Es gab bei der Tafel schon immer die Lebensmittel, die im Supermarkt nicht verkauft werden konnten. „Das war ein Rotkohlkopf und keine Dose. Spinat in der Tüte. Man muss damit was anfangen können“, sagt Diemel. Einige konnten das nicht, die kamen dann nicht.

Diemel: Immer mehr Rentner werden betroffen sein

Doch den Menschen, die zur Tafel gekommen sind, „sah man äußerlich oft nicht an, wie schlecht es ihnen ging“, erinnert sich Diemel. Es kostete den Betroffenen Überwindung. „Einen Antrag stellen machte man damals nicht. Vor allem nicht auf dem Land“, sagt er. Sorgen bereiten Diemel heutzutage die Rentner. Er glaubt, dass es immer mehr geben wird, denen es schlecht geht.

In seiner Zeit bei der Tafel folgten die Eröffnungen der Ausgabestellen in Südbrookmerland und Großefehn. „Wir liefen offene Türen ein“, erinnert sich Diemel. Eine Erklärung dafür, dass sich so viele Ehrenamtliche melden, hat er: „Es ist eine wichtige, saumäßig dreckige aber auch dankbare Arbeit“, sagt er. Man hört bis zu 80 Mal am Tag ein „Danke“. „Wo bekommt man das sonst heute noch?“, fragt Diemel. Kinder, die Mandarinen von ihrer Mutter bekommen und sich darüber freuen, oder der Schokoladen-Nikolaus, der zwar erst im Januar kommt, sorgten für leuchtende Kinderaugen. „Das war schon was“, sagt Diemel. „Die Dankbarkeit spielt eine große Rolle.“

Tafel ist Lebensmittelretter

Doch für Diemel spielt eine andere Sache genau so wichtig: Die Lebensmittelrettung. Gemüse oder Brot: All das würde im Müll landen. Durch die Tafel können Menschen davon profitieren. Das Essen ist natürlich nicht mehr im makellosen Zustand. „Die Warenempfänger müssen sich dran gewöhnen, dass es nicht 1A ist“, sagt Diemel. Wie viele Lebensmittel tatsächlich im Müll gelandet wären, findet Diemel beeindruckend. „Ich fiel manchmal auf den Hintern“, sagt er. Die Ehrenamtlichen sortieren die Waren, die von den Supermärkten kommen. Und das, was gar nicht mehr geht, muss entsorgt werden. Das kostet viel Geld. „Und deshalb braucht die Tafel Spenden“, stellt Diemel fest. Für die Fahrzeuge, die Mieten und die Müllentsorgung.

Manchmal ärgert es ihn, wenn die Warenempfänger zu hohe Ansprüche haben. Die Tafel sei kein Rundumversorger. Es gibt eben einfach das, was es aus den Supermärkten gibt. Mal sind es Kartoffeln, mal ist es Blumenkohl. „Das ist immer unterschiedlich“, so Diemel. Es ist ein Angebot an die bedürftigen Menschen. Was ihm aber besonders wichtig ist: „Kein Mensch verhungert in Deutschland. Jeder bekommt genügend Geld für Lebensmittel. Da müssen sich alle bewusst sein.“

Einen Tipp hat Diemel zum Abschluss auch noch. „Wenn jemand ehrenamtlich etwas machen will, ist es bei der Tafel einer der schönsten Jobs“, sagt er.

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