Hildburghausen (dpa)

„Das ist hirnrissig“: Singender Protest im Corona-Hotspot

Annett Gehler und Bodo Schackow, dpa
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Von Annett Gehler und Bodo Schackow, dpa
| 26.11.2020 07:18 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 3 Minuten
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Im bundesweit schlimmsten Corona-Hotspot in Hildburghausen ziehen einige hundert Menschen gegen den Lockdown auf die Straße. Sie singen „Oh, wie ist das schön!“ und sorgen damit vielfach für Fassungslosigkeit.

Am Tag nach dem bundesweit Aufsehen erregenden Corona-Protest ist in der Südthüringer Kreisstadt Hildburghausen wieder beschauliche Ruhe eingekehrt. Die kleine Fußgängerzone mit ihren geöffneten Geschäften wirkt wie ausgestorben.

Auf dem Wochenmarkt finden sich am Donnerstagvormittag nur vereinzelt Käufer mit Masken ein. Der zuvor abendliche „Spaziergang“ mehrerer hundert Menschen gegen den harten Lockdown im Kreisgebiet sorgt unter ihnen für Kopfschütteln: „Das ist hirnrissig, was die da machen“, kommentiert etwa ein jüngerer Passant, der seinen Namen nicht nennen will.

„Die da“ - das sind etwa 400 Menschen, die am Mittwochabend trotz strenger Ausgangsbeschränkungen durch die Kleinstadt zogen. Während in der Region die Infektionszahlen durch die Decke schießen, marschieren Protestteilnehmer „Oh, wie ist das schön!“ singend durch die Straßen - laut Polizei teils ohne Maske und Mindestabstand. Zur gleichen Zeit beraten die Länderchefs mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einer Video-Schalte über weitere Schritte zur Eindämmung der Pandemie in Deutschland.

Landes- und Kommunalpolitiker sind ob der Bilder aus Hildburghausen fassungslos. „Was muss denn noch passieren, bis manche den Ernst der Lage begreifen?“, fragt etwa Hildburghausens Bürgermeister Tilo Kummer (Linke) auf Facebook. Ganze Kitas, Schulen, Rettungswachen, Feuerwehren hätten in den vergangenen zwei Wochen in Quarantäne gemusst.

Auch Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) redet Klartext: „Wie unsolidarisch kann man eigentlich sein? Auf den Intensivstationen kämpfen Menschen um ihr Leben.“ In einer solchen Situation im deutschlandweit schlimmsten Hotspot jegliche Schutzmaßnahmen zu ignorieren, grenze schon an ein verbrecherisches Ausmaß von Egoismus.

Nirgendwo in Deutschland ist gemessen an der Einwohnerzahl der Infektionswert höher als in der ländlichen Region an der bayerischen Landesgrenze. Klare Infektionsherde sind hier schon lange nicht mehr auszumachen. Am Donnerstag gab es laut dem Robert Koch-Institut mit 602,9 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche einen neuen Höchststand im Kreis Hildburghausen.

Zum Vergleich: Die Regierungschefs von Bund- und Ländern sehen bereits ab einer Schwelle von 200 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen eine extreme Infektionslage, bei der schärfere Regeln greifen sollen. Um die Infektionswelle zu brechen, gelten seit Wochenmitte für die rund 63.000 Einwohner im Kreisgebiet von Hildburghausen drastische Beschränkungen: Sie dürfen bis zum 13. Dezember ihre Wohnungen nicht mehr ohne triftigen Grund verlassen, Schulen und Kindergärten wurden geschlossen.

Die harten Einschnitte stoßen nicht bei allen auf Verständnis. Laut Rathauschef Kummer kursierten bereits seit Tagen Protest-Aufrufe im Netz. „Die sind untereinander alle vernetzt, das ist dasselbe Strickmuster wie in Leipzig und Berlin - nur kleiner“, meint Landrat Thomas Müller (CDU) zu dem Protest, der am Mittwochabend nach knapp zwei Stunden auch mit Einsatz von Pfefferspray von der Polizei aufgelöst wurde. Einen Initiator konnte die Polizei laut einer Sprecherin aber noch nicht ermitteln.

Der Corona-Protest sorgte auch im Netz für lebhafte Diskussionen. Viele kritisierten ihn als verantwortungslos und äußerten ihr Unverständnis darüber, dass die Teilnehmer sich und andere in Gefahr gebracht hätten. Die Satiresendung „Extra3“ twitterte dazu: „Robert Koch-Institut meldet neuen Tiefstwert: In #Hildburghausen wurde gestern Abend der niedrigste Empathie-Wert in ganz Deutschland gemessen.“

© dpa-infocom, dpa:201126-99-468350/6

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