Berlin (dpa)

Droht eine neue Corona-Welle?

Jonas Klüter, dpa
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Von Jonas Klüter, dpa
| 27.07.2021 07:35 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 4 Minuten
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Die Corona-Pandemie nimmt wieder an Fahrt auf. Politiker warnen vor einer heftigen vierten Welle im Herbst - auch wegen des nachlassenden Impftempos. Wie realistisch sind solche Prognosen?

Mitten im Sommer, der eigentlich zu Ferien und Entspannung einlädt, wächst in Deutschland eine Sorge: Es geht um die steigende Zahl der Corona-Neuinfektionen - und was das für den nahenden Herbst bedeuten könnte.

Eine Befürchtung: Viele erst vor kurzem zurückgewonnenen Freiheiten könnten schon bald wieder verschwinden.

Angesichts der Corona-Entwicklung hatte am Wochenende Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) Beschränkungen für Nicht-Geimpfte ins Gespräch gebracht. Die Infektionszahlen stiegen derzeit jede Woche um 60 Prozent, sagte Braun. Bis Ende September könne es 100.000 Neuinfektionen pro Tag und eine Sieben-Tage-Inzidenz von 850 geben: Das wäre ein Mehrfaches des bisherigen Höchstwertes von etwa 30.000 Neuinfektionen binnen 24 Stunden Mitte Dezember.

Seit knapp drei Wochen steigt die Inzidenz: Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) von Dienstagmorgen lag sie bei 14,5 - am Vortag betrug der Wert 14,3 und beim jüngsten Tiefststand am 6. Juli 4,9. Laut RKI ist inzwischen etwa die Hälfte der Deutschen gegen das Virus vollständig geimpft.

Schon vor ein paar Tagen sprach der Präsident der Gesellschaft für Virologie (GFV), Ralf Bartenschlager, angesichts der damaligen Zahlen von einem langsamen, aber beständigen Wachstum. „Mit einer so starken Dynamik wie in anderen Ländern würde sich die Lage aber auch bei uns entwickeln, wenn man bereits jetzt alle Maßnahmen aufheben würde“, sagte der Virologe von der Universität Heidelberg.

Wie schnell es gehen kann, zeigten zuletzt Spanien und die Niederlande. Seit (dem heutigen) Dienstag gelten sie als Corona-Hochinzidenzgebiete. Auf Mallorca lag die Inzidenz am vorigen Freitag bei 365, in den Niederlanden bei etwa 360. Dort hatte die Regierung vor gut zwei Wochen die Notbremse gezogen und manche Lockerungen rückgängig gemacht.

„Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass es zum Herbst eine vierte Welle in den Inzidenzen gibt“, schrieb Mobilitätsforscher Kai Nagel in einem Blog der TU Berlin am Montag in Anbetracht der Entwicklung. Diese Entwicklung wird sich seinen Berechnungen zufolge zeitverzögert in den Krankenhäusern niederschlagen. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur spricht Nagel von zwei Prozessen - „nämlich eine weitgehend eigenständige Welle in den Schulen ab Schulöffnung und eine Welle bei den Erwachsenen“.

Während sich eine Welle in den Schulen mit den bekannten Corona-Maßnahmen - wie Testen, Lüften oder Masken - eindämmen ließe, sei bei Erwachsenen mit einer hohen Dynamik zu rechnen, erläutert Nagel. Das liege daran, dass die Zahl der vollständig Geimpften hierzulande zu gering sei. Hinzu komme, dass die Impfung Infektionen - und damit auch deren Übertragung - bei der Delta-Variante nicht so gut verhindere wie bei den meisten anderen Mutanten.

Szenarien mit einer Inzidenz von mehr als 800, wie von Kanzleramtsminister Braun befürchtet, sucht man in Nagels Blogpost vergebens. Wichtig sei aber für den Fall einer neuen Welle, den Anstieg der Inzidenzen so niedrig wie möglich zu halten. Generell, so betont er auf dpa-Anfrage, handele es sich bei Modellen zur Ausbreitung des Virus „eher um mögliche Szenarien als um Vorhersagen im engeren Sinne“. Und grundsätzlich fänden extreme Vorhersagen mehr Gehör als moderate Prognosen, sagt Nagel.

Dass selbst vergleichsweise gute Impffortschritte nicht vor einer Verschärfung der Corona-Lage schützen, zeigt ein Blick nach Israel. Mehr als 57 Prozent der 9,3 Millionen Bewohner sind vollständig geimpft. Dennoch steigen dort seit Mitte Juni die Infektionszahlen massiv. Auslöser dafür waren nach offiziellen Angaben wohl zunächst Rückkehrer aus dem Ausland, die ihre Quarantäne gebrochen hatten. Unter den Neuinfizierten in Israel sind viele jüngere Menschen und auch vollständig Geimpfte.

Auch in Großbritannien hat die Zahl der täglichen Neuinfektionen in den vergangenen Wochen erheblich zugenommen. Dennoch wurden im größten Landesteil England am 19. Juli fast alle Maßnahmen wie Maskenpflicht, Abstandsgebot oder die zahlenmäßige Beschränkung von Veranstaltungen aufgehoben.

„In England ist ein sehr strittiges Großexperiment gestartet, aus dem wir vielleicht für Deutschland Lehren ziehen können“, so der Virologe Bartenschlager. „Zum Beispiel zu der Frage, ab welcher Inzidenz in einer teilweise geimpften Bevölkerung die Lage in den Krankenhäusern problematisch wird.“

© dpa-infocom, dpa:210727-99-549021/3

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